Warum gut sein?

Aristoteles definierte den Menschen als vernunftbegabtes Tier und soziales Lebewesen, dem die Anlagen zur moralisch-praktischen Vernunft und Sozialität von Natur aus mitgegeben sind – er muss sie nur noch entfalten. Dass wir uns als vernünftige Tiere und denkende Wesen moralisch verhalten können, ist evident. Die Frage ist allerdings, warum wir uns so verhalten sollen. Statt uns um das Gute zu bemühen und uns in Tugendhaftigkeit zu üben, haben wir ja immer auch die Möglichkeit, etwas ganz anderes zu tun. Zum Beispiel: shoppen oder fernsehen… 

In der abgeklärten Konsumgesellschaft, die Geschmacksurteile an die Stelle moralischer Urteile gesetzt hat, scheint das Gutsein nur eine Option unter vielen zu sein – eine Sache des persönlichen Lifestyles. Da in diesem ästhetischen Kontext nur unsere eigenen Präferenzen zählen, wirkt dort irgendwie alles „gut“, das Moralische, das Vormoralische, das Unmoralische. Zu unserem Lifestyle kann es gehören, uns für Amnesty International zu engagagieren, die neuesten Apps herunterzuladen oder über Leichen zu gehen – Hauptsache wir können unser Tun mit einem „Gefällt mir“ quittieren.  

Der von uns favorisierte Lebensstil mag uns noch so überzeugend erscheinen – als Begründung für moralisches Handeln ist er in jedem Fall untauglich. Wenn wir die Frage „Warum gut sein?“ also ernsthaft angehen wollen, müssen wir zunächst erkennen: Gut ist nicht gleich gut. Es gilt, drei Bedeutungsebenen zu unterscheiden. Auf der untersten Stufe steht alles, was die technisch-praktische Vernunft als „technisch gut“ oder „fachlich gut“ einordnet, also „gut für etwas“. Die mittlere Stufe betrifft das, was die pragmatische Vernunft als „gut für jemanden“ (eine Person, ein Unternehmen, einen Staat) bewertet – hierzu zählen Erwägungen, wie das subjektiv empfundene Glück und Wohlergehen aller optimiert werden kann. Erst auf der obersten Stufe geht es um das voraussetzungslos und uneingeschränkt  Gute – den Bereich, der kritischen, unbedingten Moral unterstehenden praktischen Vernunft. „Schlechthin gut“ sind exemplarisch die Nächstenliebe und andere Tugenden, die mit Kosten-Nutzen-Kalkülen nichts am Hut haben.  

Erst wenn wir in moralischen Angelegenheiten nicht mehr einen vorausgesetzten Zweck verfolgen und uns weigern zu fragen „Was bringt das?“, sind wir beim Guten im echten moralischen Sinne angelangt. Dann müsste es uns auch leichtfallen, gute Gründe für unser Gutsein vorzubringen – Gründe, die unser Handeln anderen gegenüber rechtfertigen. Die wohl klassischste Form moralischer Rechtfertigung ist die Bezugnahme auf das Gewissen als moralische Leitinstanz. 

Das Gewissen mag eine Erfindung christlicher Philosophen gewesen sein, doch die Erfahrung des Bewusstseins vom Ich, das im Guten wie im Schlechten Zeuge der eigenen Existenz ist , klingt schon in der Behauptung des Sokrates an – es sei besser, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun. Platon weist darauf hin, dass es sich beim menschlichen Selbst stets um ein Selbst-Verhältnis handelt. Würden wir Unrecht tun, müssten wir unter einer entsetzlichen inneren Disharmonie leiden, da wir ja gezwungen wären, für immer mit dem Übeltäter  – also unserem schlechten Selbst – zusammenzuleben.  

Aber wie verlässlich ist das Gewissen als Bewusstsein unserer Selbst? Artikuliert sich in ihm tatsächlich unsere moralische Kompetenz – oder eine fehlbare Empfindung? Auch ist ja nicht ganz klar, ob die Stimme unseres Gewissens wirklich unser eigenes Urteil transportiert und nicht bloß Gebote und Verbote, die wir als Kinder unkritisch verinnerlicht haben.  

Worin wir auch die Rechtmäßigkeit unseres Tuns verankern, ob in unserem Gewissen, in den Vorschriften unserer Väter oder sonst wo: Kein Argument dieser Welt kann uns zum Gutsein zwingen. Uns stehen alle Möglichkeiten offen. Wir sind frei, gut zu sein, genauso, wie wir frei sind, uns schlecht, gewissenlos oder böse zu verhalten – oder etwas ganz anderes oder nichts zu tun. Die Wahl zwischen moralisch und nicht-moralisch ist ja nicht unbedingt die Naheliegendes. Sie rückt erst in unser Blickfeld, wenn wir das Feld der moralischen Indifferenz verlassen. Solange unsere Entscheidungen blind dem Lustprinzip folgen, sind sie so beliebig, optional und gleichgültig wie die Frage, ob wir ein Apple- oder doch besser ein Samsung-Telefon kaufen sollen.  

Solange wir unsere Zeit mit derartigen Pseudoentscheidungen vertrödeln, stecken wir laut Sören Kierkegaard in einem orientierungslos gelebten Leben der Zerstreuung fest. Wir befinden uns noch diesseits von Gut und Böse im Stadium des Ästhetikers, der sich von seinen Lüsten bestimmen lässt – anstatt sich selbst zu bestimmen. Dies wäre erst dann der Fall, wenn er zum Ethiker werden würde und den Raum der moralischen Freiheit beschritte, in dem nicht Genuss, sondern Verantwortung zählt.  

Der vormoralische Ästhetiker ist Amoralist im eigentlichen Sinne. Er befasst sich mit der Frage „Warum gut sein?“ nicht deshalb nicht, weil er die Forderungen der Moral ablehnt, sondern weil ihm Moral etwas völlig Unbekanntes ist, sowohl theoretisch als auch praktisch. Anders der unmoralisch-schlechte und der antimoralisch-böse Mensch. Der Unmoralische ist theoretisch sehr wohl mit den Regeln der Moral vertraut, aber er ist entweder zu willensschwach, um sie zu befolgen, oder er entscheidet sich um des eigenen Vorteils willen bewusst gegen die Moral, zum Beispiel, indem er Steuern hinterzieht. Der Unmoralische kauft bei einem Mode-Discounter, weil die in Indien gefertigten Klamotten so billig sind – er kauft ein T-Shirt bei Primark für 2,50€ und geht dann für 6,50€ bei Starbucks eine Tasse Kaffee trinken. Der Antimoralist wiederum tut das Böse um des Bösen willen, indem er aus Überzeugung nach bestimmten moralwidrigen, außermoralischen Grundsätzen handelt. Er versklavt Menschen und verdient Millionen.  

Moralisches Handeln basiert auf guten Gründen, unmoralisches bzw. außermoralisches kommt auch ohne Begründung aus. Wer unmoralisch oder antimoralisch handeln will, tut es einfach. Auch die theoretische Einsicht in den unbedingten Wert des Gutseins kann ihn nicht daran hindern, praktisch gegen diese Einsicht zu handeln.
Weil er es kann. Weil er frei ist, es zu tun
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Ein schlechter oder böser Mensch ist sowieso nur vom Standpunkt der Moral aus „schlecht“ oder „böse“. Seine Schlechtigkeit bzw. Bösartigkeit kann auch nicht verhindern, dass er sich insgesamt womöglich glücklicher einschätzt als jemand, der sich ums Gutsein bemüht. Aber wenn einer, der Kinder misshandelt, mit seinem Leben zufriedener ist als einer, der sich ehrenamtlich um traumatisierte Kinder kümmert, könnte man dann nicht erst recht fragen: „Warum überhaupt Gutes tun?“ Welcher Sinn steckt dahinter? 

Nehmen wir an, dass wir zu denjenigen gehören, die sich das Gutsein nicht ausreden lassen. Was andere tun, ist uns egal. Wir verhalten uns gut, weil wir gut sein wollen. Dann allerdings müssen wir uns die Frage gefallen lassen, ob das, was wir als „gut“ anstreben, nicht nur auf eine mehr oder weniger zufällige Übereinstimmung unserer pragmatische Präferenzen mit dem Guten zurückzuführen ist. Das Ziel unseres Strebens muss nicht das „schlechthin Gute“ sein, auch wenn es dieses bewirkt. Es kann sich auch um das momentane Wohlgefühl handeln, das sich einstellt, wenn wir anderen Nächstenliebe geschenkt haben. Wenn wir aber aus vormoralischen Motiven Gutes tun, verhalten wir uns nicht im echten Sinne moralisch. 

Wenn wir gut sein wollen, muss unser Wollen frei von Neigungen sein, die an externe Handlungsziele gebunden sind. Dass es mit dem subjektiven Wollen so kompliziert zu sein scheint, ist vielleicht doch eher das objektive Sollen ausschlaggebend fürs Gutsein? Das, was bestimmte moralische Werte und Normen von uns verlangen? Vielfach verhalten wir uns doch gesetzestreu und menschenfreundlich, nicht weil wir es unbedingt wollen, sondern weil wir durch bestimmte strafrechtliche und soziale Normen dazu angehalten werden. Anders als gesellschaftliche Konventionen beinhalten moralische Normen stets eine moralische Begründung.  

Konventionen veranlassen uns, nicht nackt einkaufen zu gehen und während einer Konferenz nicht zu jodeln, weil „man“ das eben nicht tut. Moralische Normen hindern uns an solchen Aktivitäten, weil sie, indem sie von der Gesellschaft abgelehnt werden, als „schlecht“ gelten. Aber wie verbindlich sind diese Normen tatsächlich? Wie steht es um die Geltung der Werte, die dem jeweiligen Normensystem zugrunde liegen?  

Gut möglich, dass moralische Werte und Normen gar keine objektive, absolute, unbedingte Geltung haben – dass es unser subjektives, relativ gültiges Urteil ist, was ihnen jene Geltung zuschreibt. Der Mensch, der über Moral nachdenkt und ihre Inhalte als Regeln kodifiziert, urteilt schließlich nicht von einem Archimedischen Standpunkt, sondern aus seiner speziellen Kultur heraus. Dass bestimmte Werte und Normen in einer Kultur verbindlich sind, heißt nicht automatisch, dass sie auch in einer anderen Kultur verbindlich sind. Wenn ihre Geltung kulturrelativ ist, kann sie nicht objektiv sein, oder? 

Zweifellos gibt es Moral- bzw. Tugendauffassungen, die von fast allen Kulturen geteilt werden: Gegenseitigkeit, Großzügigkeit, Tapferkeit, Gerechtigkeit, der Schutz von Leib, Leben und Eigentum, etc.

Wir könnten vermuten, dass solche als subjektiv wahr anerkannte Werte nicht auf einer wie immer zu erschließenden Objektivität gründen, sondern auf den natürlichen Bedürfnissen der Menschen. Wir könnten denken, dass Bedürfnisse, wie die nach Nahrung, Wasser oder Liebe die Basis des universell gültigen Naturrechts und damit der globalen Menschenrechte sind. Auf die Frage, warum wir uns moralisch verhalten, könnten wir dann zum Beispiel antworten: „Weil wir soziale Wesen sind, die zu ihrem Existieren und Wohlergehen aufeinander angewiesen sind“. Aber dieses Argument ist im Hinblick auf die verschiedenen Bedeutungen von „gut“ mit Vorsicht zu genießen. Wenn wir gut zueinander sind, weil dies unserem kollektiven Vorteil dient, folgen wir bestenfalls der pragmatischen Vernunft; bleiben also letztlich im Bereich des Vormoralischen (ganz abgesehen davon, dass unsere Bedürfnisse nie nur natürlich, sondern immer kulturell vermittelt und überformt sind, sobald es nicht mehr ums nackte Überleben geht).  

Die Frage „Warum überhaupt gut sein?“ mag uns viel Kopfzerbrechen bereiten – bis wir erkennen, dass es sich hierbei um eine unmoralische Frage handelt. Eine Frage, auf die wir nur eine einzige, ziemlich freche, aber unumstößlich wahre Antwort geben können: Warum? „Darum“. Da wir die Möglichkeit zum Gutsein haben, haben wir auch die Pflicht.

Holger Fuchs
Transformation Network

 

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