Der spinnt doch! Der gehört doch in eine geschlossene Anstalt!

So ungefähr äußerte sich ein Freund von Isabel García, als sie ihm von einem Erlebnis erzählte, welches sie mit einem ehemaligen Kunden hatte.

Er war so erbost, wie ich behandelt worden bin, dass ihm jegliches Verständnis für die andere Seite fehlte. Was passiert ist? Kurz gesagt, ist mir eine Panne passiert. Dies hat mein Kunde mitbekommen und hat eine Nacht nicht schlafen können, weil er sofort von meiner „absichtlichen“ Handlung erbost war und überlegt hat, ob er sofort den Kontakt zu mir abbricht oder mich trotzdem noch einmal – wie verabredet – trifft. Er entschied sich, mich zu treffen und rückte irgendwann mit der Frage heraus, warum ich ihm absichtlich hätte schaden wollen.

Häh? Ich wusste gar nicht, wovon er redet, weil mir diese Panne unbewusst passiert ist und natürlich habe ich nach diesem Gespräch sofort alles wieder gerade gerückt. Es entstand meinem Kunden kein Schaden. Aber das Vertrauen war weg. Das Vertrauen darauf, dass ich es gut mit ihm meine. Ich habe lange und viel mit ihm gesprochen. Habe mich häufig entschuldigt und trotzdem brach er irgendwann den Kontakt ab.

Neulich nahm er wieder Kontakt auf, um mich um einige Dinge zu bitten. Dies nahm ich als Gelegenheit, um noch einmal darüber zu sprechen, aber dabei wurde er so böse, dass er förmlich spuckte beim Anbrüllen.

Gott sei Dank passiert mir so etwas selten. Zumindest in dieser Ausprägung. Was mir allerdings immer mal wieder passiert: dass jemand seine Baustelle zu meiner macht. Dieser Kunde hat ein starkes Problem mit Vertrauen. Sein Vertrauen wurde in der Kindheit grob missbraucht. Er erlebte eine Grenzüberschreitung, bei der ich gut verstehen kann, dass die einen vielleicht nie ganz loslässt.

VERSTEHEN, KANN ICH ES

Daher konnte ich die hilflose Wut verstehen. Dies war in seinen Augen wieder ein Vertrauensbruch. Wieder einmal hat jemand egoistisch an sich, anstatt an ihn gedacht. Eine alte Wunde wurde aufgerissen. Abgesehen davon hat ein guter Freund von ihm damals gesagt:

Die García triffst du nie wieder. NIE wieder. Wie kann sie so etwas machen.

Kurz darauf wurde der Freund todkrank und starb.

Somit könnte es gut sein, dass mein Kunde ebenso aus Loyalität an der von ihm gefärbten Meinung seines Freundes festhält.

Dies sind alles Vermutungen von mir. Ich habe zwar zig Fragen gestellt, aber kaum Antworten bekommen. Und ich bin auch nicht die Therapeutin meines Kunden. Die gesamte Geschichte und meine Gedanken erzählte ich einem guten Freund und er reagiert wie oben beschrieben:

Wie kannst du dir auch noch darüber Gedanken machen, was ihn zu diesem bescheuerten Verhalten verleitet hat? Der hat die Wahrheit komplett verdreht und benimmt sich wie ein Arschloch.

HARTE WORTE FÜR HILFLOSIGKEIT

Ich kann meinen Freund verstehen, weil ich wirklich sehr verzweifelt war, nachdem ich das letzte Zusammentreffen mit dem Kunden hatte. Doch … ist das ein lohnender Weg?

Fassen wir zusammen: Ich hatte eine freundschaftliche, vertrauensvolle Beziehung zu einem Kunden. Mir passierte unbewusst eine Panne, die meinem Kunden hätte schaden können. Er unterstellt mir Absicht, ohne mich vorher zu fragen. Er erzählt es seinem Freund, der völlig entsetzt ist. Ich biege alles wieder zurecht, so dass mein Kunde keinen Schaden nimmt und entschuldige mich. Mein Kunde glaubt mir nicht mehr und bricht den Kontakt ab. Und bis heute ist er so böse auf mich, dass er mich als egoistisch und unehrlich hinstellt. Ich erzähle davon meinem Freund und der ist nun auch böse.

Viele negative Gefühle. Auf allen Seiten. Ich werde das Kindheitserlebnis meines Kunden nicht reparieren können, doch ich kann nachvollziehen, dass diese Verletzung noch schmerzt. Trotzdem ziehe ich mir den Schuh nicht an, denn diesen ganzen Schlamassel haben wir, weil er mich verurteilt hat, ohne vorher mit mir zu sprechen und weil er seine Baustelle zu meiner machte.

WAS MIR HILFT

Diese Gedanken und Überlegungen, die ich mir wegen des Kunden mache, helfen mir bei der Verarbeitung. Wenn ich selbstkritisch auf die Situation blicke, dann kann ich mit etwas zeitlichem und emotionalem Abstand erkennen, wo die Verantwortung liegt. Für all die Dinge, die in meinen Verantwortungsbereich fallen entschuldige ich mich. Und ich sehe zu, dass ich es wieder gut mache, auch wenn das natürlich manchmal nicht geht. Ich möchte nicht meine Baustelle auf meinen Gesprächspartner überstülpen.

Wenn der wüsste, was mir in meinem Leben schon passiert ist, dann würde er anders mit mir umgehen …

lasse ich bei mir nicht gelten.

Ich räume selbst in meinem Leben auf und erwarte nicht von anderen, dass sie da vermehrt auf mich Rücksicht nehmen, nur weil ich die Verantwortung von mir weg schiebe. Wenn ich also feststelle, dass der Konflikt an mir liegt, dann will ich an der Situation wachsen.

Wenn ich aber klar sehe, dass es nicht meine Baustelle ist und es fast egal ist, was ich sage und wie ich reagiere, weil bei meinem Gegenüber gerade ein ganz anderer Film läuft, in dem ich noch nicht einmal eine Nebenrolle spiele, dann beruhigt mich das. Ich kann dadurch leichter damit abschließen oder noch einmal leichter auf denjenigen zugehen, ohne mich weiterhin verantwortlich zu fühlen.

WISSEN HILFT

Je mehr ich mich weiter fortbilde in mentalen, psychologischen und  pädagogischen Zusammenhängen, desto leichter komme ich mit solchen Situationen klar. Früher hätte es mich wochenlang verstört, wenn mich jemand so „ungerecht“ behandelt hätte. Heute schaue ich, ob es nicht vielleicht doch gerechtfertigt war und was/ob ich etwas tun kann.

Dafür brauchte ich am Anfang sehr viel Zeit. Ich habe mich tagelang damit beschäftigt, um emotional Abstand zu gewinnen, wieder sachlicher zu werden und meine subjektive Bewertungsbrille abzusetzen. Mittlerweile werde ich immer schneller. Und es ist ein großartiges Gefühl, wenn ich nach einem Tag merke, dass es mich nicht mehr belastet, auch wenn der Konflikt heftig war.

Sie können sich selbst sehr viel Leid ersparen, wenn Sie Ihr Bewertungssystem nicht auf andere Menschen übertragen. Nach dem Motto: „Wenn ich jemanden liebe, dann schenke ich ihm jeden Tag Blumen. Wenn mir jemand also keine Blumen schenkt, dann liebt er mich nicht.“ – „Wenn mir jemand wichtig ist, dann packe ich diesen Menschen an erste Stelle in meinem Leben. Und wenn das ein anderer bei mir nicht macht, dann bin ich ihm wohl nicht wichtig.“ – „Wenn ich meine Kollegin mag, dann setze ich mich jede Woche mit ihr zusammen und bespreche alle Baustellen. Wenn meine Kollegin das nicht mit mir macht, dann mag sie mich wohl nicht und ist unehrlich.“

UNTERSCHIEDLICHE BEWERTUNGSSYSTEME

Wie wollen Sie ein Verhalten verstehen, wenn Sie sich nicht in den anderen hinein versetzen? Ich gebe gerne die Anregung, Ihr Gegenüber so zu behandeln, als wenn es Ihr bester Freund wäre. Würden Sie bei dem auch so schnell aufgeben? Und so schnell urteilen? Würden Sie nicht vielmehr das Gespräch suchen und Fragen stellen? Warum beim besten Freund und nicht beim Kollegen oder Kunden?

Aus Ihrem Blickwinkel können Sie es kaum verstehen, weil wir alle anders sind. Jeder hat seine eigene Brille auf, nutzt das eigene Bewertungssystem, die eigene Landkarte oder lebt gedanklich auf seiner eigenen Insel, wie Vera F. Birkenbihl so schön sagte. Wenn Sie den anderen verstehen möchten, gilt es die Landkarte, den Blickwinkel, das Bewertungssystem und die Insel des Anderen kennenzulernen.

Bei einem Kunden sagen wir gerne mal: „Eine Frechheit, dass der mich anbrüllt, bloß weil der gerade private Probleme hat.“ Bei einem Freund sagen wir: „Kein Wunder, dass du gerade um dich haust. Es ist ein Wunder, dass du überhaupt noch arbeiten kannst bei diesem ganzen Nervenkrieg.“

Ich sage nicht, dass ich jegliches Verhalten billige. Ich sage nur, dass ich das meiste verstehen kann. Und somit kann ich es verarbeiten und vielleicht doch noch einen Weg finden, mit dem wir uns beide wohl fühlen. Und so manches Mal darf ich mich – bei allem Verständnis – auch einfach abwenden.

Isabel García

Mehr über Isabel finden Sie hier:

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Buchtipp:

 

 

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