Rituale – Holger Fuchs

Werkzeuge für einen bewussteren Alltag? Gesunde Gewohnheiten für die Seele! 

In jüngster Vergangenheit hat die Wissenschaft mit ihrem Interesse an „Ritualen und Riten“ eine höchst faszinierende Diskussion eröffnet. Dabei haben insbesondere Forscher aus Psychologie, Religionswissenschaften, Soziologie und Theologie viele neue Aspekte herausgearbeitet. 

Laut allgemeiner Definition ist ein Ritual „eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende, feierlich-festliche Handlung mit hohem Symbolgehalt“. So weit, so gut. Diese Begriffserklärung ist allerdings sehr wissenschaftlich und manchmal sogar etwas lebensfremd. Vielleicht hilft uns ein anderer Ansatz weiter: 

So könnte man die Wörter „Ritus“ und „Ritual“ mit dem griechischen Begriff „arithmos“, was „Zahl“ bedeutet, verbinden. Ein Ritual wäre dann etwas Abgezähltes, etwas Strukturgebendes. Möglicherweise könnte man Ritual auch von der altindischen Wurzel „rtáh“ ableiten, was soviel wie „angemessen, recht“ bedeutet. Rituale zu vollziehen ist demnach also etwas, was dem Menschen und seinem Lebensrhythmus angemessen ist, etwas, das recht und richtig für ihn ist. 

Unser tägliches Leben beinhaltet – ob bewusst oder unbewusst – viele Rituale: das morgendliche Frühstück mit dem Lesen der Tageszeitung, die Morgentoilette, das Zubereiten von Essen, die täglichen Minuten des Lesens vor dem Einschlafen, ja selbst das Putzen der Wohnung oder die gewohnte Reihenfolge beim Ankleiden. Ist die Handlung lediglich ein bedeutungsloser Teil des Tages, ist es reine Routine. Verfolgt man mit dem Frühstück einfach nur den Zweck des Sattwerdens, hat es wenig Rituelles an sich. Dient das morgendliche Mahl jedoch dem Einstieg in den Tag, indem man sich selbst bewusst wird, sich für den Tag bereit macht und stärkt, langsam erwacht aus der Welt der Träume in eine bewusste Umgebung, so ist dies ein Ritual. Das Frühstück bekommt eine höherwertigere Qualität. Es wird Teil eines größeren Ganzen und der begonnene Tag als Spiegel der Lebenshaltung. 

Es kommt auf den Zugang an, mit der die Tagesaufgaben bewerkstelligt werden wollen. Viele Menschen gehen durch ihr Leben ohne wirklich Freude an ihren Tätigkeiten zu empfinden. Das passiert, wenn das Leben aus reiner Gewohnheit oder Routine besteht. Ein gutes, weil persönlich und individuell sinnstiftendes Ritual kann oft die Funktion der Notbremse einnehmen und uns dabei unterstützen, das Leben bewusster zu gestalten. 

Für den Menschen kann es äußerst bereichernd sein, wenn gewisse Rituale in den Tagesablauf eingebunden werden. Vielleicht betreffen diese nur ihn selbst. Sie vermögen jedoch auch die gesamte Familie, Freunde oder Arbeitskollegen mit einbeziehen. Durch diese Rituale bekommt unser Handeln einen Sinn und eine Bedeutung – einen Mehrwert also, den es ohne Ritual nicht hätte. Das gemeinsame Abendessen im Familienkreis dient als Beispiel: Sich zu öffnen, aufeinander zuzugehen und den zu Ende gehenden Tag besprechen, macht aus dem Essen mehr als einfach nur die Nahrungsaufnahme. Das bewusste Revuepassieren des Tages kurz vor dem Einschlafen gibt Feedback über getroffene Entscheidungen und dient als Basis für den nächsten Tag.  

Oft sind es allerdings nicht die  äußeren Faktoren, die an unserer Lebensenergie zehren, sondern die innere Einstellung. Wenn das tägliche Leben nur mehr ein Funktionieren oder eine einzige große Gewohnheit darstellt, ist es, als seien wir Maschinen. Doch auch diese müssen mit Energie versorgt werden, sonst können sie ihre Arbeit nicht leisten. Wir können uns „aufladen“, indem wir in die Natur gehen, uns in einer Meditation entspannen und vieles mehr. Wir können aber auch von vornherein dafür sorgen, dass ein automatischer Ausgleich vorhanden ist – indem wir dem Handeln im rituellen Kontext einen Sinn verleihen und so die Arbeiten mit mehr Freude erledigen können. Putzen wäre dann nicht das Entfernen von Schmutz, sondern das Verschönern des Lebensraums – alles eine Frage der Einstellung also.  

Der Soziologe Karl Gabriel definiert Rituale als

stilisierte, wiederholbare Handlungen an den typischen Übergängen und Brüchen des modernen Alltags.

Mit dieser Definition fasst Gabriel alle wissenschaftlichen Zugänge zusammen. Rituale sind gesunde Gewohnheiten für die Seele. Die Seele des Menschen wohnt in Gewohnheiten, Rituale geben der Seele eine Heimat. Es sind gesunde Gewohnheiten für das Denken, Fühlen, Wollen und Entscheiden. Rituale geben dem Menschen Sicherheit, weil sie ihm vertraut sind und eine Art Gerüst geben. Daher ist es sinnvoll, „gute“ Gewohnheiten für sich zu entdecken und zu pflegen bzw. „schlechte“ Gewohnheiten auf den Prüfstand zu stellen, auszumerzen oder durch andere zu ersetzen.

Was passiert diesbezüglich beim Ritual? Es bildet eine Art Prozess, eine Struktur für das Bewusstsein, den Geist. Insofern beginnt ein Ritual genau da: im Bewusstsein und in der Imagination. Ein fortlaufender Prozess, dem gestaltlosen Geist und seinem Erleben, Form, Richtung und bewusste Wahrnehmung zu geben. Modern ausgedrückt könnte man Ritualistik als praktische Bewusstseinstechnologie beschreiben. Letztlich gibt es viele Aspekte, von denen aus man das Thema betrachten kann. Eine Zeremonie hat für gewöhnlich ein Ziel und verfolgt auf dem Weg dahin verschiedene Handlungsschritte. Hier geht es darum, jeden dieser einzelnen Schritte bewusst zu gestalten und ihn schon allein dadurch einem höheren Sinn zu verleihen.  

Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Wenn ein Christ sonntags regelmäßig in die Kirche geht, gleichzeitig aber weder Gott anerkennt noch gläubig ist, dann entsprechen diese Besuche keinem Ritual, sondern sind eine sinnentleerte Gewohnheit. Es verlangt eine innere Ausrichtung auf das Ereignis – sonst fehlt dieser Sinn in der Handlung.  

Wie können wir uns diese Erkenntnis zunutze machen? Es geschieht, indem wir uns darüber bewusst werden, was wir tun, wie wir es tun und vor allem warum wir es tun. Welche Gedanken- und Gefühlsmuster liegen unseren Gewohnheiten zugrunde?  

Mit anderen Worten: gefällt uns das, was wir tun? Wie wäre es, wenn wir die Dinge ändern würden? Wie wäre es, wenn wir bewusst etwas Neues ausprobieren? Wie würde es sich auswirken? Würde unsere Lebensqualität steigen? Die Antworten auf diese Fragen könnten zu einer effektiven Methode werden, wirkliche und echte Änderungen zu bewirken, unser Leben bewusst wahrzunehmen – jede Minute wäre ein Spiegel unseres Bewusstseins, unserer Psyche und unserer spirituellen Konstitution. Der Sinn unseres tagtäglichen Tuns läge glasklar vor uns – mit allen gewünschten und manchmal auch unerwünschten Konsequenzen. Das Warum unserer Gewohnheiten würde offenbart.  

Wir haben die Möglichkeit,  uns immerfort neu zu entscheiden und unseren Lebensablauf mit anderen Prioritäten zu gestalten. Aber: eine Entscheidung zu treffen verlangt Aufwand, ist unkomfortabel und unbequem. Wir wären ständig damit gefordert, an uns selbst zu arbeiten, uns zu hinterfragen und womöglich liebgewonnene Gewohnheiten über Bord zu werfen.  

Dann jedoch hätten wir es in der Hand, unser Leben selbst, neu, individueller zu gestalten, ganz im Sinne Antoine de Saint-Exupérys. 

Für ihn ist „ein Ritual in der Zeit das, was im Raum eine Wohnung ist.“ Was könnte mehr motivieren, eigene Rituale zu entwickeln, lieben zu lernen und in den Lebensalltag zu integrieren?

Holger Fuchs

Transformation Network 

 

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