WER BIN ICH?

Eine bohrende Frage und der Sprung ins große Abendteuer (Andi Weiss)

Ich muss Ihnen ein intimes Geständnis machen! Wenn ich Konzerte spiele, bin ich immer maßlos aufgeregt. Das liegt – und ich hoffe das ist jetzt nicht unhöflich – nicht an meinem Konzertpublikum. Ich bin bei Konzerten immer derartig aufgeregt, weil ich nie weiß, was am nächsten Tag über das Konzert vom Vorabend in der Zeitung steht. Oft kommen Redakteure in der Konzertpause auf mich zu und fragen mich: „Herr Weiss, was passiert denn in der zweiten Hälfte des Konzerts? Ich habe noch einen Anschlusstermin und muss weg …“. Meistens versuche ich dann in aller Demut zu beschreiben, wie das für mich ist, wenn ich nach der dreizehnten Zugabe im weißen Bademantel auf die Bühne komme.
Vor einigen Jahren bin mit meinem „Heimat“-Programm getourt. In diesem Programm habe ich sehr ausführlich und breit erzählt, warum ich so dankbar bin, dass ich in Oberbayern und nicht in Niederbayern auf die Welt gekommen bin.  Dieses Programm habe ich auch einmal an der Nordsee gespielt. Just bei diesem Konzert kam wieder – wie eben geschrieben – ein Redakteur in der Pause mit genau dieser Frage: „Herr Weiss, was passiert denn in der zweiten Hälfte? Ich muss noch weg …“. Ich erklärte ihm, dass alle ober- und niederbayrischen Konflikte nur „gespielt“ waren und nicht wirklich ernsthafte Probleme darstellten. Genau aus diesem Grund würde ich heute Abend auch am Ende des Konzerts – nach der dreizehnten Zugabe – mit den Konzertbesuchern aufstehen, um mit der Hand am Herzen, gemeinsam die Bayernhymne zu singen.  Ich habe mich den ganzen Weg zurück nach München gefragt, ob der Mann die Ironie in meiner Antwort wohl verstanden hat. Als ich den Zeitartikel gelesen habe merkte ich, scheinbar nicht.  

Es ist tatsächlich sehr spannend etwas über sich in der Zeitung zu lesen. Manchmal, weil man da Dinge liest, die man selbst noch gar nicht von sich wusste. Und manchmal weil es tatsächlich für mich sehr interessant ist zu lesen, wie andere Menschen das wahrnahmen was ich so auf der Bühne mache. Eine Redakteurin schrieb neulich in einem Konzertbericht über mich: „Lieder wie Reinhard Mey, im Stil von Herbert Grönemeyer, mit dem Charme von Florian Silbereisen …“ Für einen kurzen Moment musste ich überlegen, ob ich mich freuen oder meinen Anwalt anrufen sollte. Und doch muss ich mich selbst immer wieder fragen: Wer bin ich? Und wer möchte ich gerne sein? Bin ich nur mit meinen guten Seiten erwünscht? Oder gehören zu meiner Person auch meine Schattenseiten dazu? Muss ich zu allem „Ja und Amen“ sagen oder sind meine Zweifel, mein Versagen, mein Widersprechen auch Teil meiner Persönlichkeit? Ich kenne Zeiten in meinem Leben, an denen ich gegen mich selbst kämpfe. Da hört man die guten Worte der Menschen um einen herum nicht, da kann man Lob nicht speichern, weil man ja doch viel besser weiß, wie man in Wirklichkeit ist. Und ich frage mich: „Wer bin ich?“.

Welche Worte hat man über ihnen ausgesprochen? Welche Worte haben Ihnen Eltern, Lehrer, Geschwister oder Freunde gesagt? Vielleicht gut gemeint – aber doch so schlecht gemacht? Wie lange glauben Sie schon, dass Sie zu jung, zu alt, zu dumm, zu hässlich, was auch immer sind? Ich habe mich in den letzten Jahren sehr intensiv gefragt, wer ich denn eigentlich bin. Vor fast 20 Jahren habe ich angefangen, professionell mit Menschen zu arbeiten. Ich ließ mich zum evangelischen Diakon ausbilden, arbeitete über 16 Jahre in einer Kirchengemeinde, begleitete Menschen und durfte tiefe Einblicke in unterschiedlichstes Lebensentwürfe wagen. Ich hatte einen sicheren Arbeitsplatz, ein beamtenähnliches Arbeitsverhältnis auf Lebenszeit. Alles war „save“. Vor etwas über 10 Jahren begann ich dann mit meinen Konzerten. Ich erfüllte mir einen Lebenstraum und schenkte mir nach vielen Jahren der Bandmusik mein erstes Soloalbum zu meinem 30. Geburtstag. Es sollte ein Hobby werden … vielleicht ein paar Konzerte im Jahr ..   mehr nicht. Ich hatte die Rechnung ohne die Menschen gemacht, die recht schnell begeistert auf meine Geschichten und meine Musik reagierten. Nach über 1.000 Auftritten und weit über 100.000 verkauften Büchern und CDs keimte in mir der Gedanke, dass nun „ganz“ beruflich zu machen.  Ich hatte mich von meiner Kirche schon zur Hälfte für die Konzerte freistellen lassen. Aber der nächste Schritt bedeute einen großen Schritt raus aus der Bequemlichkeit … rein ins kalte Wasser. Weg von Sicherheiten hin zum großen unbekannten Abendteuer. Ich zögerte die Entscheidung über Jahre hinaus. Eines Tages fiel mir eine Postkarte in die Hand auf der Stand:

Zu wissen was man will, heißt zu wissen was man nicht will!

… Ich buchstabierte diesen Satz monatelang für mich weiter. Für mich war es klar: Zu wissen wer man ist, heißt dann auch zu wissen wer man nicht ist … vielleicht sogar nicht sein muss. Ich hab den Sprung gewagt und werde tagtäglich für meinen Mut belohnt. Neben der Musik habe ich eine logotherapeutische Beratungspraxis in München aufgemacht. Ich gehe mit Menschen in den unterschiedlichsten Situationen des Lebens auf Sinnsuche und biete sinnorientiertes Coaching für Führungskräfte an. Ich bekomme Anfragen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. 

Zu mir kam ein junger Mann zum Beratungsgespräch. Schnell zählte er auf, was ihn alles so quälte: „Ich bin zu dick! Ich bin zu faul! Ich stinke! …“ Seine ihn quälende Liste war noch viel länger und irgendwie erinnerte mich seine Aufzählung an einen alten Werbeclip einer Bank in dem der eine Mann dem anderen stolz seine Errungenschaften präsentierte: „Mein Haus! Mein Auto! Mein Garten…“ Ich persönlich halte mich nicht für kompetent die äußerlichen Vorzüge bei Männern beurteilen zu können und dennoch hatte ich den Drang ihm entschieden zu widersprechen. Ich fand nicht, dass der junge Mann streng roch oder auffallend unattraktiv war. Und hatte er mir nicht gerade erzählt, dass er neben seiner Arbeit noch eine Abendschule besuche? Wie konnte er sich selbst also so eine ausgelebte Faulheit attestieren? Ich bat ihn alle diese Aussagen die er über sich ausgesprochen hatte auf ein Papier zu schreiben. Schnell was das Blatt mit vielen negativen Sätzen gefüllt. Dann gingen wir gemeinsam auf die Suche, wie es zu diesen Aussagen kam. Es brauchte seine Zeit. Das war schon fast kriminalistische Feinarbeit. Doch irgendwann brach der Damm und er fasste den Mut und ging tapfer auf eine kleine biographische Entdeckungsreise. Plötzlich sprudelten die Zusammenhänge nur so aus ihm heraus. Stück für Stück fielen ihm die Menschen ein, die Aussagen über sein Leben gemacht hatten. Aussagen, die viel mehr mit dem Leben des jeweiligen Menschen selbst zu tun gehabt hatten. Da war sein Vater, der nach 30 Jahren seine Arbeit verloren hatte und seitdem ohne Erwerbstätigkeit Tag für Tag mehr am Leben zerbrach. Hinter dem „Du bist zu faul!“, stand eigentlich seine eigene Angst und die negative Aussagen war eigentlich nur der Wunsch: „Mein Junge, sei fleißig! Sonst geht es Dir wie mir!“. Vielleicht hätte er das auch einfach so seinem Sohn sagen sollen? Da war sein magersüchtiger Bruder der immer und immer wieder den Satz wiederholte: „Du bist zu dick!“. Er hatte sein eigenes Lebensthema nicht bei sich behalten. Er hat die eigene Krankheit auf den Bruder abgeladen. Vielleicht hatte er auch nur den Wunsch diese schwere Bürde nicht alleine tragen zu müssen, nicht ahnend welche Last er damit weitergab? 

Wir arbeiteten uns Satz für Satz durch das Papier und kamen aus dem Staunen nicht heraus. Stück für Stück zerbrach ein großes, mächtiges Wort nach dem anderen. Am Schluss nahm er das Blatt Papier und zerriss es wütend mit den Worten: „Aber das bin ich doch alles gar nicht! Und ab heute werde ich das auch nicht mehr sein!“

Einmal durfte ich einen Bildhauer interviewen und besuchte ihn dazu in seiner Werkstatt. Bildhauerei hat mich schon immer fasziniert. Begeistert bestaunte ich seine Werke. In einer Ecke seiner Werkstatt stand ein rauer, großer, grober Holzklotz. Unbearbeitet, mit  Astlöchern und teils abgeblätterter Rinde. Ich fragte scherzend: „Ist das auch Kunst oder kann das weg?“  Der Künstler reagierte ganz irritiert als hätte ich seine Frau beleidigt oder die Ehre seiner Familie beschmutzt. Zärtlich strich er über den Klotz, sah das Stück Holz liebevoll an und fragte mit sanfter Stimme: „Siehst Du nicht diese wunderschöne Figur? Diese elegante Haltung? Der etwas gekrümmte und doch in den Himmel blickende Körper? Siehst das nicht?“ Ich wollte nicht unhöflich sein. Alles was ich sah war eben ein rauer, großer, grober Holzklotz. Unbearbeitet, mit  Astlöchern und teils abgeblätterter Rinde. Es vergingen ein paar Wochen und eines Tages bekam ich einen Brief mit einem Foto. Der Künstler schrieb: „Siehst Du es jetzt? Was für eine schöne Figur! Sie war immer schon da! Ich musste sie nur von dem lästigen Holz um sie herum befreien. Aber auch das war ganz einfach. Ich musste doch nur das wegnehmen was nicht dazu gehörte.“

Zu wissen wer man ist – heißt zu wissen wer man nicht ist. Und umgekehrt.

Im Wissen, dass ungelebtes Leben krank macht, dürfen wir Altes hinter uns lassen und das bisher Unentdeckte aus unserem Leben herausholen. Das Leben wird uns für diesen Mut belohnen. Aber nur wenn wir bereit sind den Preis für diese Freiheit zu tragen. Jeder Mensch hat so viel zu geben. Alles darf in unsere Berufung einfließen – wenn wir sie wirklich leben wollen. Mein Schätze und meine Scherben, meine Erfolge und meine Niederlagen. Meine Hoffnung und meine Ungewissheit. Das Leben ist eine Achterbahnfahrt und freu mich in diesen Wagen eingestiegen zu sein. Manchmal lamentiere ich über den langsamen anstrengenden Weg nach „oben“ – aber manchmal schreie ich vor Aufregung, manchmal krampft sich alles in mir zusammen wenn die scharfen Kurven kommen. Aber es ist diese große Gewissheit, seinen Weg zu gehen. Es ist mein Weg. Den Weg, der dann erst entsteht wenn wir ihn gehen.

ANDI WEISS – SONGPOESIE&SINNCOACHING

www.andi-weiss.de


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