Kommt raus aus der Nettigkeitsfalle

Sie sammeln Fleißkärtchen, wirken immer bestens gelaunt, sind der Sonnenschein fürs Büro – und einfach zu nett für den Job. Karrierecoach Martin Wehrle warnt: Dauerlächeln deuten manche Kollegen als Unterwerfungsgeste.


Zum Geburtstag ihrer Kollegen brachte sie selbst gebackenen Kuchen mit, dekorierte den Tisch und zündete Kerzen an. Ließ jemand den Kopf hängen, schenkte sie ihm ein offenes Ohr. Sie kochte Kaffee fürs ganze Team, nahm Telefongespräche für Kollegen an und ließ anderen den Vortritt beim Urlaub.


Niemand hatte die technische Zeichnerin Natalie Körner (Name geändert) je in schlechter Laune erlebt. Sie war ein Sonnenschein, lächelte immer. Bis ihr Chef eines Tages ein wichtiges Konstruktionsprojekt vergab. Sie hätte es so gern betreut. Doch eine fachlich weniger fitte Kollegin bekam den Vorzug. Die Begründung ihres Chefs: „Das ist ein schwieriges Projekt – dafür sind Sie viel zu nett!“


In der Beratung fragte sie ungläubig: „Kann man denn zu nett sein?“ Und ob. Nur ein schmaler Grat verläuft zwischen Nett- und Zu-nett-sein, zwischen Kompromissbereitschaft und Selbstverleugnung. Wer die Nettigkeit zu weit treibt, landet in der Unterwürfigkeit. Dann führt der Versuch, die Sympathie der anderen zu gewinnen, zu einem Verlust an Respekt.


Dauerlächeln gilt als Symbol für Unterwerfung

Fraglos profitierte Körners Vorgesetzter von ihrer Nettigkeit, solange sie in ihrem Team für gute Laune sorgte und Konflikte abfederte. Aber sobald es um verantwortliche Aufgaben ging, deutete er dieses soziale Engagement gegen sie. „Zu nett für dieses Projekt“ hieß offenbar: „Wir trauen dir nicht zu, dass du dich durchsetzt.“


War diese Sorge nicht berechtigt? Wie sollte eine Mitarbeiterin, die bei ihren eigenen Interessen stets zurücksteckte, die Projektinteressen gegen Widerstände vertreten? Stand nicht zu befürchten, dass ihre Mitarbeiter keine Befehle angenommen, jeden Termin missachtet und einen Tanz auf ihrer Nase aufgeführt hätten?


Wer allzu nett ist, sendet die Botschaft, nicht allzu wichtig zu sein. Er erweckt den Eindruck, sich die Gunst der anderen mit Unterwürfigkeit zu erkaufen. Dauerlächeln ist ein Symbol dafür. Einige Affenarten zeigen in zwei Situationen die Zähne: wenn sie einem Konkurrenten drohen – und wenn sie sich unterwerfen, also die Waffen strecken. Bei Nathalie Körner kam das Lächeln als Geste der Unterwerfung an: „Entschuldigt, dass es mich gibt!“


Nettigkeit als Schutz zu nutzen, dieser Reflex steckt in uns allen. Sicher haben Sie auf Kränkungen, etwa schlechte Witze auf Ihre Kosten, auch schon mit einem Lächeln reagiert, statt Ihre Wut oder Traurigkeit zu zeigen. Diese Reaktion aus der Kindheit soll den mächtigen Angreifer für uns einnehmen. Natürlich erreichen wir das Gegenteil. Wir strecken die Waffen – und werden noch weniger ernst genommen.


Dass Nathalie Körner Geschenke kaufte, Urlaubstage abtrat und Seelenschrott entsorgte, wurde als ständige Unterwerfung gedeutet. Sie gab, aber versäumte es, selbst zu fordern.


Nettigkeit unterliegt dem Gesetz der Inflation

Dass die allzu Netten vergeblich um Liebe buhlen, können Sie schon auf dem Schulhof beobachten. Mal ehrlich, wen fanden Sie in der Pubertät attraktiv: jemanden, der immer gelächelt hat, voller Verständnis war und zu allem Ja und Amen sagte? Oder einen Jungen, der sein Mofa frisierte, mit vielen Mädchen flirtete und sich mit Heavy Metal besser als mit höherer Mathematik auskannte? Ein Mädchen, das viele Jungen abblitzen ließ, Dates wichtiger als Hausaufgaben nahm und nachts nicht nur unter Mamis frisch aufgeschüttelter Bettdecke, sondern auch mal in einem verbotenen Klub zu finden war?


Die Netten waren gerade recht, um die Hausaufgaben bei ihnen abzuschreiben und sich mit Liebeskummer bei ihnen auszuheulen. Nur eines waren sie nicht: attraktiv.


Dieses Spiel läuft ein Leben lang weiter. Der allzu nette Verkäufer wird von seinen Kunden mit Rabattforderungen in die Enge getrieben, die allzu nette Lehrerin von ihren Schülern vorgeführt. Und der allzu nette Politiker steht ein Leben lang unter einem Parteischirm in der Kleinstadt-Fußgängerzone, um Wahlkampf zu machen – für andere, die ihn dann aus dem Bundestag grüßen.


Aber fehlt es nicht genau an solchen Menschen, die ihre eigenen Interessen zurückstellen und dem Gemeinwohl dienen? Das kann schon sein, aber was bringt es, wenn dieser Dienst mit der eigenen Gesundheit und Zufriedenheit bezahlt wird? Wenn er zu Burn-out, Depression und Unglück führt?


Nett sein ist in Ordnung, es kommt aber auf ein gesundes Gleichgewicht an: Kochen Sie den Kaffee für andere – aber lassen Sie sich auch Kaffee kochen. Unterstützen Sie die Karriere anderer – aber fordern Sie auch Unterstützung ein. Geben Sie nach bei den Urlaubstagen – aber pochen Sie beim nächsten Mal auf das Nachgeben der anderen. Denn nur wer seine Interessen wahrt, wird als Partner auf Augenhöhe wahrgenommen.


In jeder Gesprächssituation werden zwei Positionen vergeben: Hochstatus und Tiefstatus. Wer angewiesen wird, ist im Tiefstatus, wer anweist, im Hochstatus. In gesunden Beziehungen wechseln die Positionen ständig. Wer aber nur im Tiefstatus agiert, wird nicht für voll genommen. Was ist das Lächeln von jemandem wert, der immer lächelt; das Kompliment von jemandem, der immer Komplimente macht; das Geschenk von jemandem, der am laufenden Band schenkt?


Nettigkeit unterliegt dem Gesetz der Inflation: Wer sie dosiert verschenkt, ist begehrt. Aber wer die anderen damit überschüttet, entwertet sich selbst.



Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus Martin Wehrles Buch:





Martin Wehrle (Jahrgang 1970) war Manager, bevor er Karriereberater und Gehaltscoach wurde. Er ist Autor der Bücher „Lexikon der Karriere-Irrtümer„, „Ich arbeite in einem Irrenhaus“ und „Bin ich hier der Depp?“.


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